Kartoffeln

 

Er kannte jeden Winkel des Hofes. Die Scheune neben dem Hauptgebäude war 200 Kinderschritte lang und jeden Schritt konnte er im Dunklen gehen. Das große weitläufige Anwesen war sein zu Hause, seine Vergangenheit. Der Krieg war zu Ende, aber Angst, Schmerz und Verzweiflung beherrschten das Denken in dem kleinen Dorf weit im Osten des Landes. Die verschiedenen Gebäude des Bauernhofes hatten schon viele Geschichten erlebt. Die beiden Kinder des Hauses, die hier aufgewachsen waren, mussten früher oft mit dem Personal in der Küche essen, bis sie, wie der Vater immer zu sagen pflegte, Manieren und angemessenes Verhalten gelernt hatten.

Als sie älter waren, entwischten sie manchmal durch den Personaleingang, um wichtige Dinge im Stall zu erledigen, wichtige Ereignisse in der Nachbarschaft nicht zu verpassen. Selbst wenn im Sommer viel zu tun gewesen war und auch die Kinder bei der Arbeit auf dem Feld mithelfen mussten, beim Heueinholen, bei der Kartoffelernte… Josef hatte abends immer noch etwas ganz Wichtiges zu erledigen. Manchmal war es eine Verabredung, manchmal ein Blick in den Pferdestall und manchmal war es ein Geheimnis. Die Mutter hatte oft den Kopf geschüttelt mit den Worten: 
„Du kannst nie genug kriegen.“

Auch jetzt schlich er, wie jemand, der nicht erwischt werden durfte, an der Rückseite des großen Wohnhauses entlang.

Die Kinderzeit war schon lange vorbei. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, fast ein wenig dünn. Die dunkelblonden Haare waren zurzeit ziemlich lang. Das fein geschnittene Gesicht hatte durch die hohen Wangenknochen ein wenig feminine Züge, aber die dunklen Augen und die ein wenig breiter gezeichneten Augenbrauen bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Sein dunkelgrüner Wanderrucksack war alt, die Kleidung war abgetragen, doch die ursprünglich gute Qualität war noch zu erkennen.

In sicherer Entfernung zu den hell erleuchteten Küchenfenstern stand Josef an der Hauswand im Dunkeln und wartete angespannt darauf, dass in der Küche das Licht erlosch. Plötzlich vernahm er den intensiven Geruch von Küchenkräutern und erinnerte sich, dass er als Kind oft für die Mutter oder für die Köchin Kräuter holen musste, die direkt unter den Küchenfenstern wuchsen.

Doch an dieser Stelle des Gartens war der Geruch so intensiv, dass Josef sich verwundert bückte und bemerkte, dass er mitten im zertretenen, wild gewachsenen Schnittlauch und Lavendel stand. – Nichts ist mehr da, wo es einmal hingehörte, nichts ist mehr so wie früher, dachte er. Der Wind hatte die Kräutersamen verweht. Sie hatten sich einen neuen Platz auf der Erde suchen müssen. Alle Regeln waren aufgehoben. Seine Mutter hätte niemals zugelassen, dass der Garten verwilderte, dass alles durcheinander wuchs, dass die mühsam geordnete Welt durcheinander geriet. Unkraut, Blumen, Kräuter… das war nicht mehr ihr geliebter Garten. Auf der Terrasse vor dem Esszimmer wuchsen Disteln zwischen den weißgrauen Marmorbruchsteinen. Er blickte auf den hoch- geschossenen Kohl, um den sich niemand gekümmert hatte. Diese bizarren Gebilde sahen jetzt im Dunklen aus wie exotische Gewächse, die aus fernen Ländern kommen mussten und hier nicht zu Hause waren. Mit diesem ihm fremden Gedanken fühlte er, was er bis jetzt noch nie in dieser Intensität gefühlt hatte: Entfremdung.

Er dachte an das erstarrte Gesicht seiner Mutter, an den verzweifelten Blick seines Vaters und spürte den tiefen gemeinsamen Schmerz der Eltern.

Ich muss es schaffen, ich muss es schaffen, ich muss in den Keller!

Inzwischen war es so still und dunkel im Haus geworden, dass er es wagte, zur Tür zu schleichen. Behutsam, ganz langsam, ganz leise drückte er die Klinke der Tür nach untern. Das laute Pochen – das laute Pochen – war nur sein Herz. Wenn jetzt… ein Glück, die Tür war nicht verschlossen. Das verräterische Knarren der Holztür war durch schnelles Öffnen zu vermeiden. Josef hielt die Luft an, jetzt schnell. Seine feuchte linke Hand umklammerte noch immer krampfhaft die Türklinke – geschafft. Er war im hinteren kleinen Flur des Hauses. Ein fremder Geruch kam ihm entgegen. Gartengeräte, Körbe, Eimer, alles befand sich da, wo es nicht hingehörte. Lautlos bahnte er sich einen Weg durch die in Unordnung geratenen Dinge. Als die Welt noch in Ordnung war, gab es hier nur eine Garderobenleiste und ein Bord für die Schuhe des Personals. Nur ein paar Schritte, dann konnte er die rettende, schützende Kellertür erreichen. Die hohen, steilen Stufen der steinernen Kellertreppe und das weiß gestrichene Felsgewölbe waren wie eine schützende Höhle für ihn. Das Mondlicht schien durch die großen Kellerfenster. Es war so hell, wie er es sich vorgestellt hatte. Er konnte sich gut orientieren. Gleich rechts in der großen Nische unter der Treppe war das Ziel seiner Wünsche:

Kartoffeln. Hier war es stockdunkel. Gut, dass man Kartoffeln riechen und fühlen kann. Hastig riss er sich den großen, grünen Wanderrucksack von den Schultern und füllte ihn mit den handgroßen, wunderbaren Kartoffeln. Seine Finger spürten im Dunklen – Augen. Die Angst durchfuhr ihn, wenn mich nur gleich niemand sieht.

Drei Augen müssen die Kartoffeln haben, hatte ihm damals sein Vater erklärt. Es war der Sommer, in dem er drei Jahre alt geworden war. Seine Eltern hatten ihn auf das Feld mitgenommen. Alle Bediensteten des Hofes waren jetzt nach den Eisheiligen damit beschäftigt, Kartoffeln zu setzen. Kartoffeln der letzten Ernte wurden in kleine Stücke geschnitten – in Stücke mit drei Augen. Der kleine blonde Junge hatte seine großen braunen Augen weit aufgerissen, als der Vater sagte, wenn du Geburtstag hast, bist du drei Jahre alt. Dabei drehte der Vater die Setzkartoffel in seiner Hand und zeigte dem kleinen Sohn zählend die drei Kartoffelaugen. Wenn der Sommer vorbei ist, werden wir wieder Kartoffeln ernten.

Polternd stürzten einige Kartoffeln von dem Berg, den er nicht sah. Polternd wurde er aus dem kurzen Moment seiner frühsten Erinnerung gerissen. Als sein Atem stockte, wurde sein Herz genau so hart wie die Kartoffel in seiner Hand. Wenn mich nur niemand hört! Nein, alles blieb ruhig. Er konnte den Rucksack kaum noch schließen. Lautlos schlich er die Kellertreppe hoch, vorbei an den gefährlichen Geräten im Flur, zur Tür. Einen kalten Tropfen fühlte er seinen Hals herunterrinnen. Seine Stirn war nass geschwitzt. Er wischte sich die Stirn mit seiner linken Hand.

Seine Beine fingen plötzlich an zu laufen, obwohl er sich doch langsam und leise über den Hof bewegen wollte. Der Hofhund Rufus bellte. Ein gewaltiger Schreck durchfuhr seinen Körper, als ob alle Hunde des Dorfes gierig bellend und jagend hinter ihm herhetzen würden. Er spürte den Rucksack auf seinen Körper schlagen. Und mit jedem Schlag zerbrach ein Stück der Liebe zu seinem eigenen Hund. Ein Fenster wurde aufgerissen. Laute wütende Stimmen schrieen hinter ihm her. Er verstand jedes Wort, obwohl es nicht seine Sprache war. Er rannte weiter und weiter, ohne sich einmal umzudrehen. Er wusste, dass die lange Kette des Hofhundes bis zur alten Kastanie reichte. Die Kastanie, die Kastanie… Im Schutz des Baumes weiter rennend, hörte er die drei Schüsse, die auf ihn gerichtet waren. Er spürte, wie sie in diesem Augenblick die Rinde der alten Kastanie verletzten. Wenn sie jetzt nur nicht meine Silhouette erkannt haben. Der fast volle Mond war gerade hinter den Wolken verschwunden.

Viele Jahre später fragte ihn seine Tochter zum wiederholten Male, warum er denn keinen Hund haben wollte. Und endlich erzählte er die Geschichte, von der Zeit der Besatzung, von seinem Dorf in Schlesien, von der Welt, die in Krieg und Chaos geraten war und vom adaptierten Hund.

Nur vom Hunger und vom langsamen Sterben seiner Eltern sprach er nicht.

Er hatte zu den wenigen jungen Männern des Dorfes gehört. Wegen seiner auffälligen Erscheinung hatte man ihn in gewisser Weise akzeptiert. Er wurde gerufen, wenn es irgendwo Probleme gab. Er sprach nach kurzer Zeit auch polnisch und musste manchmal übersetzen. Er wusste alles über die Arbeit auf dem Feld. Er wusste, wie tief die Ackerfurchen sein mussten. Er wusste, wie man ein Fohlen mit Hafer und Eiern versorgte, so dass man es im nächsten Frühjahr schon vor den Pflug spannen konnte. Er wusste, wie man mit den wenigen wertvollen Pferden umzugehen hatte, die nicht gleich eingezogen worden waren.

Und er wusste auch, wo die frei laufenden Hühner ihre Eier versteckten. An den Genuss von frischen, rohen Eiern hatte er sich schon bei Zeiten gewöhnt. Gleich morgens musste man sie finden und dann direkt ausschlürfen. Wehe dem, der mit gestohlenen Eiern oder anderen Naturalien erwischt wurde… auch, wenn es die eigenen waren.

Er durfte nicht in Verdacht geraten, denn er wurde besser als alle anderen ursprünglichen Dorfbewohner akzeptiert. Er war der junge Mann mit nur einer Hand.