Auf einer Burg

 

Nach Patschgau, nach Patschgau werden wir fahren, nachdem die Mutter die Einladung zur Hochzeit laut vorgelesen hatte, war Anne-Marie sofort begeistert. Patschgau, das Wort klang so schön, dass sie sich schon immer gewundert hatte, dass nicht jeder vor Freude in die Hände klatschen musste. Manchmal besuchten sie dort die Schwester des Vaters und ihre Familie. Patschgau, diese wunderschöne, sagenumwobene mittelalterliche Stadt mit den wuchtigen Rundtürmen, mit der alten Wehranlage und den Bürgerhäusern im Inneren der Mauer war die Stadt ihrer Phantasie. Sie wusste nicht mehr, ob zuerst die Vorstellung von der Stadt in ihren Gedankenbildern entstanden war oder ein vorgelesenes Märchen ein Bild gemalt hatte, das es dann wie durch ein Wunder auch wirklich gab. Wie auch immer. Patschgau sah aus wie die Stadt der Märchen und Sagen, die es schon immer in ihrer Welt der Phantasie gegeben hatte. Immer wieder verleiteten die steinernen Figuren, die die Bauten zierten, zum Träumen. Immer wieder beflügelten die kreischenden Dohlen, die um die dicken Türme kreisten, die Phantasie.

Sie fuhren mit einem Auto nach Patschgau, es war so groß, dass sie alle darin Platz hatten, Vater, Mutter, zwei Schwestern, drei Brüder und der Fahrer. Die Fahrt ging über das Land, das im gleichmäßigen Tempo vorbeizog. Manchmal, wenn die Straße uneben war, hüpfte Anne-Marie, mehr oder weniger kreischend, von der gepolsterten Sitzbank. Autofahren fühlte sich gut an. Der Motor brummte im Bauch des Autos und sie spürte das Kopfsteinpflaster der Straße, das ein gleichmäßiges Reisegefühl im Körper produzierte. Die Mutter hatte ihr leise zugeflüstert, dass sie in die Ferne schauen sollte, wegen der Geschwindigkeit.

Der Turm der Wehrkirche war schon auf dem noch weit entfernten Berg zu sehen. Die Trauung sollte in der Wehrkirche St. Johannes stattfinden, die von außen eher an eine Festung erinnerte, mit ihrem eckigen Turm und dem ungewöhnlichen Kirchenschiff mit den geraden mächtigen Wänden, die in den Himmel ragten, und dem flachen Dach, das gekrönt war mit vielen Zinnen. „Haben die Ritter noch die Kirche gebaut?“, fragte der kleine Bruder Paul. „Die Wehrkirche ist aus dem 14. Jahrhundert.“, erklärte der Vater, „aber die Stadtmauer ist noch älter, die ist wirklich aus dem Mittelalter.“ Anne-Marie sollte ein Gedicht vortragen. Leise sprach sie noch einmal das Gedicht, das sie doch schon auswendig konnte. Es war so ein Gedicht, das man schnell lernen konnte, aber gleich wieder vergessen hatte. Das Gedicht gefiel ihr nicht. Viel lieber hätte sie selbst ein Gedicht ausgewählt, aus dem schönen roten Buch, das in der guten Stube ganz unten im Bücherschrank stand. Es war das Buch mit der Verzierung, die man sehen und fühlen konnte. Die ersten Seiten des Buches waren von irgendjemanden colloriert worden, aber so, dass die verlaufenen Farben einige Seiten bis zur Unkenntlichkeit verfärbt hatten. Es war ihr Lieblingsbuch. In diesem Buch gab es Gedichte, die, ausgelöst durch ein Bild, ein Gefühl, eine Begebenheit, einen Gegenstand, auf einmal präsent waren in ihren Gedanken. Patschkau hatte etwas mit diesem Buch zu tun.

In der Ferne sah man nun schon die Stadt und gleich würden sie durch das Tor fahren, das von den steinernen Rittern bewacht wurde, die vor vielen hundert Jahren wohl von einer Hexe oder von Berggeistern verzaubert worden waren. Als sie die Augen schloss, um nicht in die leeren Fensterbogen und nicht in die leeren Augen der versteinerten Figuren anschauen zu müssen, erkannte sie das Gedicht, dass die alten Steine erzählen:


Auf einer Burg
Eingeschlafen auf der Lauer
Oben ist der alte Ritter;
Drüben gehen Regenschauer,
Und der Wald rauscht durch das Gitter.

Eingewachsen Bart und Haare,
Und versteinert Brust und Krause,
Sitzt er viele hundert Jahre
Ober in der stillen Klause.

Draußen ist es still und friedlich
Alle sind ins Tal gezogen,
Waldesvögel einsam singen
In den leeren Fensterbogen.

Eine Hochzeit fährt da unten
Auf dem Rhein im Sonnenscheine,
Musikanten spielen munter,

Und die schöne Braut, die weinet.

Joseph von Eichendorff


Auf einmal überfiel sie der Gedanke, es könnte der falsche Bräutigam sein. Der richtige sitzt noch immer in der Burg. Der Ritter wäre der Bräutigam gewesen. Seit vielen hundert Jahren sitzt er oben auf der Burg. Er wartete auf seine Braut: Angespannt, konzentriert, immer auf dem Sprung, mit wachen Sinnen, die Augen weit geöffnet, immer darauf bedacht, das Glück nicht zu verpassen…

Eingeschlafen auf der Lauer. Eingewachsen Bart und Haare, versteinert Brust und Krause, noch immer sitzt er in der Stille, im steinernen Turm, mit steinernem Herzen. Er ist alt geworden mit der Zeit, eingeschlafen mit der Zeit, versteinert mit der Zeit. Der Wald, der durch die Gitter rauschte, hat vielleicht den Bart und die Haare in Wald verwandelt. Moos und Ranken haben sich ausgebreitet. Nach vielen hundert Jahren ist der Lauernde von einst zum Wartenden geworden, zum Schlafenden – und schließlich ist er eingewachsen mit der Zeit, in den Stein, ist eins geworden mit den steinernen Mauern seiner Umgebung. Er ist Stein geworden. Die leeren Fensterbögen blicken wie leere steinerne Augen ins Tal.

Die schöne Braut weint, denn sie hat nicht den einen gefunden, auf den sie gewartet hatte, der auf sie gewartet hatte. Vielleicht hat sie in einem anderen Turm auf ihn gewartet, beide haben nur gewartet. Selbst der Wald hat sich von der Stelle bewegt. Irgendwann kam ein anderer vorbei, er hat die Braut vor der Versteinerung bewahrt. Und sie weint. Die Musikanten spielen munter, glauben, sie weine vor Glück, und sie weint vor Schmerz. Alle sind ins Tal gezogen. Aber es ist der falsche Fluss, der falsche Fluss! Die Hochzeit fährt auf dem Rhein! Vielleicht ist es doch der richtige Bräutigam und die richtige Braut, dachte sie und ihr steinschweres Herz wurde schon etwas leichter.

Auch Dornröschen hat hundert Jahre geschlafen, im Turm aus Stein, eingewachsen in Rosen und Dornen, und der Prinz hat sich durch den Dornenwald gekämpft, mit seiner Kraft und mit seinem Schwert. Er hat seine Liebe gefunden und zum Leben erweckt.

Der Ritter hätte nicht warten dürfen. Er sollte suchen und kämpfen. Er sollte durch die Wälder und Felder reiten, durch die Welt. Er muss in der Welt das Glück suchen und nicht still sitzen und warten und warten bis an das Ende
der Zeit.