Der Nikolaus kommt ins Dorf
Es war kalt geworden. Die Weihnachtszeit stand vor der Tür. In der Schule mussten die Kinder ein Gedicht lernen, ein Weihnachtsgedicht. Anne-Marie hatte sich gefreut, als der Lehrer zum ersten Mal das schöne dicke Buch mit den Gedichten mitgebracht hatte. Am Ende des traurigen, trüben Vormittags im November hatte er sich gemütlich auf seinen gepolsterten Armlehnstuhl gesetzt und bei Kerzenlicht einige wunderschöne Gedichte vorgelesen. Alle Gedichte erzählten von der Weihnachtszeit. Nur ein Gedicht gefiel Anne-Marie nicht. Die Kinder lachten laut über den dummen vergesslichen Jungen, der im Gedicht beschrieben wurde. Ihre Freundin Luzie lachte besonders laut. Merkt denn niemand, wie unendlich traurig sich die Worte im Schein der Kerze ausbreiteten und den Raum erfüllten und die ganze Welt, dachte sie verzweifelt.
Die Stimmung, die sie wieder von einer Sekunde auf die andere überrascht hatte, war so schwermütig, so traurig, dass sie nur mit großer Mühe gegen die Tränen ankämpfen konnte. Ein Wort, ein Text, ein Gedicht, ein Bild – und schon stürzte ihre Stimmung ab. Ihre Gefühle stürzten in einen unendlich tiefen Abgrund. Immer wieder passierte es, dass sie plötzlich weinte. Sie konnte einfach nichts dagegen tun. Worte erreichten sofort ihr Herz. Alles erreichte sofort ihr Herz.
Das Gedicht erzählte von einem armen Jungen, der von der Mutter ins Dorf geschickt wurde, um beim Kaufmann Hefe zum Backen zu holen. Als er an der Kirche vorbeikam, war er so fasziniert von den wunderbaren Weihnachtsliedern, die der junge Organist auf der Orgel spielte, dass er in die Kirche gehen musste, dass er zuhören musste. Als es Abend wurde und der von der Musik verzauberte Junge aus seinem Zauber erwachte, gab es keine Hefe mehr. Es gab keinen Hefekuchen und keine Weihnachtsfreude. Die Familie war arm. Weihnachtsgeschenke gab es nicht, gab es vielleicht niemals. Der Hefekuchen wäre die einzige Freude gewesen.
Als ich Christtagsfreude holen sollte“ hieß das Gedicht, das sie auswendig lernen mussten, ein Gedicht von einem Autor, den man kennen sollte. Schon hatte sie den Namen vergessen, schon stürzten die Worte und Bilder in eine tiefe Schlucht. Es war wie befürchtet, ausgerechnet dieses unendlich traurige Gedicht, das man kaum anhören konnte, ohne zu weinen. Dieses Gedicht mussten sie auswendig lernen. Schon liefen ihr wieder die Tränen über ihr Gesicht. Sie kramte leise in ihrem roten Schultornister, um sich vor den Blicken der anderen Kinder zu verstecken, die anders waren, die nicht weinen mussten, die lachen konnten, die viel stärker waren und viel lustiger als sie. Alle Kinder waren so ähnlich wie Luzie, nur sie war anders. Es ist so schrecklich, wenn man so ist, so schrecklich, dachte sie nur noch. Sie wünschte, die Zeit möge schneller vergehen, die Glocke möge endlich läuten, der Unterricht möge endlich zu Ende sein.
Als der Schnee fiel, kam der Nikolaus ins Dorf und besuchte jedes Haus. Knecht Rupprecht mit der Rute war auch dabei, wie immer. Ihre große Schwester Mathilda hatte ihr heimlich erzählt, dass Männer aus dem Dorf verkleidet von Haus zu Haus gingen. Schulkinder durften das schon wissen, schließlich waren sie nicht mehr so klein.
Als es am Vorabend des Nikolaustages mächtig an der Haustür polterte, versteckte sie sich in dem schmalen Zwischenraum hinter dem riesigen dunklen Kachelofen. In der Küche gab es nur ein einziges gutes Versteck. Nur ein Kind konnte sich dort verstecken. „Anne-Marie ist nicht zu sprechen“, sagte ihr Vater, als der Nikolaus in seiner Furcht erregenden Art nach ihr fragte. Den Männern mit den tiefen Stimmen gefiel das Spiel. Sie kamen mit Begeisterung, um den Kindern Angst zu machen, nicht vor der Rute, aber vor der bedrohlichen Stimme, und Anne-Marie hatte Angst. Warum brachten sie nicht einfach die guten Gaben, die sie doch immer herschenkten, und verzichteten auf den fürchterlich aufregenden Teil des Abends, fragte sie sich.
Endlich fragte der Nikolaus die Mutter nach einem Leinentuch, das sie sogleich auf den Holzdielenboden ausbreitete. Dann schütteten sie mit lautem „Ho, ho!“ die Äpfel, Nüsse, Printen, Herzen, Pfeffernüsse, Hänsel und Gretel aus Pfefferkuchen und all die anderen guten Sachen aus dem Sack und gingen endlich davon.