Im Frühling
Am ersten April 1931 war es endlich so weit. Im Frühling, als die Schwalben schon wieder aus dem Süden zurück waren, konnte Anne-Marie endlich zur Schule gehen. Sie wollte alles wissen, alles lernen, alles erfahren über die Welt… Ein aus Holz geschnitzter Puppentheaterkasper mit einer schrecklich kratzigen Stimme begrüßte die Eltern und die neuen Schulkinder. Mit schnellen Blicken und schnellen Gedanken schaute Anne-Marie sich um. Alle Kinder waren sehr vergnügt, lachten laut über den dummen Seppel, der aber auch gar nichts wusste, und kreischten vor Vergnügen, wenn der Kasper mit einem Stöckchen auf das Krokodil, das die Buchstaben und Zahlen fressen wollte, einschlug. Wenn man nichts weiß wie der arme Seppel, dann wird man von den anderen ausgelacht, und wenn man versucht, irgendwie die Buchstaben und Zahlen in den Kopf zu bekommen wie das Krokodil, dann wird man auch noch mit dem Stöckchen geschlagen. Dem Schulkasper konnte man nicht trauen, weil er ständig sein unechtes Lachen zeigte und die anderen so schlecht behandelte. Der Seppel und das Krokodil taten ihr leid. „Nicht weinen!“, flüsterte ihr Vater auf einmal leise neben ihr. Vielleicht ist es nur am ersten Tag so schrecklich in der Schule, hoffte Anne-Marie und schaute sich die anderen Kinder an, die alle so vergnügt waren. Fast jeder Tag war so schlimm wie der erste Tag. Sie hatte sich so sehr auf die Schule gefreut, aber alles war so mühsam, so schwer. Die Buchstaben sahen alle so ähnlich aus. Manchmal zeigten sie nach rechts und manchmal nach links, aber scheinbar wussten immer alle sofort, wo rechts und links ist. Nur sie musste immer überlegen. Aber das Schlimmste waren die kratzigen Griffel, mit denen die siebenundzwanzig Erstklässler auf ihren Tafeln herumkratzten. Es war kaum auszuhalten. Es war, als kratzten sie mit Glasscherben auf ihrer Haut. Es tat so weh. Immer wieder lief ihr ein Schauer über den ganzen Körper. Sie wünschte das Ende der Stunde herbei. Aber die Zeit verging niemals so, wie sie es sich wünschte. Das Kratzen hatte scheinbar kein Ende. Bald würden sie in Schulhefte schreiben, hatte die Lehrerin, Fräulein Pappel, gesagt. Dann haben die Qualen ein Ende, dachte Anne-Marie. Bis dahin musste sie irgendwie überleben. Am liebsten hörte sie in der Schule die Märchen von Hans Christian Andersen, die manchmal am Ende des Unterrichts von der Lehrerin vorgelesen wurden. Sie liebte es, diese Märchen zu hören und die Schneekönigin, die Zinnsoldaten, die kleine Meerjungfrau, die Zwerge und all die Bilder der Phantasie zu sehen. Immer wenn sie Geschichten hörte, verging die Zeit so schnell, als ob man selbst in die andere Zeit, in die Zeit der Geschichte, mitgenommen würde und für eine kurze Zeit die Zeit in der Schule verlassen würde. Denn die Zeit geht schnell, hatte neulich der Lehrer Laake gesagt, als er einmal die neuen Erstklässler von Fräulein Pappel besuchte. Immer wieder musste sie an diesen Satz denken und daran, dass die Zeit so langsam und so schnell vergehen konnte. Wie am Himmel die Wolken bewegte sich die Zeit und schon war sie wieder davon geflogen mit ihren Gedanken. Schon verträumte sie wieder die Zeit. Eigentlich fand sie es viel schöner zu Hause auf dem Hof zu sein, den Erwachsenen bei der Arbeit zuzusehen und den Vater zu fragen, der doch alles wusste.
Aber lesen, schreiben und rechnen wollte sie schon gerne lernen.