Modernising the Concept of ADHD, so das Motto des 9. ADHD Word Congress im Mai 2023 in Amsterdam, vorgestellt von Jan Builtelaar. Welch ein schönes Motto, welch eine gute Basis – welch geringe Resonanz! Ich denke ebenfalls, es ist an der Zeit. Fangen wir gleich an:
Modernisieren wir das Konzept von ADHD
Das alte Konzept richtete seinen Fokus auf Symptome. Es ist restriktiv, begrenzt und nicht mehr zeitgemäß. Das neue Konzept erweitert die Perspektive um den Aspekt Funktionsfähigkeit, in der Community im weitesten Sinne und somit auf Wellbeing für Individuum und Gesellschaft. Ein glückliches Leben nicht trotz, sondern wegen der ADHS-Neurodiversität? Ist denn das die Möglichkeit? Es wird schon werden.
Aus der kategorialen Sichtweise von normal vs. krank, richtig vs. falsch, mit klaren Gruppengrenzen, wird die dimensionale Betrachtung, die die Gruppengrenzen auflöst. Dies schafft den Raum für ein breites Spektrum der möglichen Wahrnehmung, der Möglichkeiten der Wahrnehmung und der dadurch möglichen Existenz in der Welt. Freuen wir uns auf mehr Nuancen des Denkens und des Seins.
Prototypische, Atypische und ihre seltsamen seltenen Ressourcen
Prototypische Präsentationen von ADHS, wie sie im Buche stehen (DSM, ICD 10) gibt es zwar in der Realität – aber es gibt sie selten, manchmal, dagegen oft bis sehr oft – eher nicht – und bei Mädchen und Frauen, meistens ganz und gar nicht.
Atypische, personalisierte Präsentation von ADHS könnten in Zukunft mehr und mehr in der Diagnostik an Bedeutung gewinnen, Qualität und Quantität des Wissens, des Sehens und des Erkennens vorausgesetzt. In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die Frage, wer die Fähigkeit hat Hochkreativität bei Frauen im Zusammenhang mit ADHS zu vermuten, zu erkennen, zu diagnostizieren und als Ressource zu mobilisieren. Werden wir sie erkennen, wenn sie uns begegnen?
Negative Outcomes werden zu positiven Outcomes
Bisher haben sich Forschung und Lehre auf die negativen Outcomes beschränkt, zukünftig werden neben den negativen auch die positiven Outcomes von ADHD den Horizont des Denkens, des Heilens und des Handelns erweitern. Die seltene Fähigkeit der Transformation ist dem Konzept der Extreme immanent.
Himmel, was soll das nun wieder bedeuten? Gehen wir zurück auf null, schauen wir noch einmal auf das Thema selbst und nun so, als hätte man uns Menschen gelehrt, wie wir denken sollen und nicht immer nur, was wir denken sollen.
Die Defizit-Perspektive wird erweitert um die Stärken-Perspektive
Die Defizite und Schwächen Perspektive aus Sicht der eher neurotypisch Wahrnehmenden verändert sich, sie schwächt die Schwächen und stärkt die Stärken der neurodivergenten Menschen. Die Defizit Perspektive wird erweitert zur Stärken Perspektive. Und schon überscheiten wir leicht und sinnig den Horizont. Überraschend oft kann eine falsche ADHS bedingte Entscheidung in eine nützliche und produktive umgewandelt werden.
Die prägende Umwelt: Ein Risikofaktor wird erweitert zum Schutzfaktor
Neurodivergente Menschen leben in einer Welt, die geschaffen wurde für Neurotypische. Anders wahrnehmen und denken produziert Stress und schadet der Gesundheit. Der ADHS Risikofaktor Umwelt bleibt, wird aber mehr und mehr auch zum Schutz-Faktor für Entwicklung und Wachstum. Entdecken wir die Faktoren der Resilienz. Machen wir uns auf die Suche nach schützenden, der Entwicklung förderlichen Umwelt-Faktoren, nach Menschen, Tieren, Dingen, Welten. Manchmal kommen originelle Ideengeber, assoziative Denker, Hochkreative, Humorvolle, begeisterte Handwerker, Techniker, Forscher oder Erfinder ans Licht, manchmal einfach nur glückliche Menschen.
Gesunde Systeme und Gesundheitswesen
Medizinische Versorgung und klinisch-basierte Pflege-Systeme sind in Zukunft nicht mehr allein zuständig für ihre Patienten. Gemeinsame Verantwortung und Entscheidung von Menschen in Communitys führt zu besserem Selbst-Management. Voraussetzungen dafür sind Psychoedukation und Gesundheitskompetenz.
Ist-Zustand der Gesundheitskompetenz: Wahrscheinlich geht es um Menschen, die nicht wirklich in der Lage sind, die Strukturen im Gesundheitswesen zu verstehen. Das ist nicht normal, es ist ein Defizit von unbekanntem Ausmaß. Es gibt Probleme mit Menschen, die Probleme damit haben vorgegebene Strukturen zu übernehmen, sie müssen Strukturen selbst erarbeiten und entdecken. Auch das noch! Da hilft nur noch Ambiguitätstoleranz.
Transformation des Denkens
Beginnen wir mit einer kleinen Übung zur Transformation des Denkens: Ersetzen wir das Gesundheitswesen durch die Gesundheitswesen. Die Menschen selbst sind Gesundheitswesen. Entdecken wir die Geheimnisse der normalen und der komischen, seltsamen Wesen, also NTs und NDs. Wahrscheinlich handelt es sich mehrheitlich um strukturfolgende Gesundheitswesen, die sich selbst und andere verstehen und von anderen mehr oder weniger verstanden werden. Das atypische Gesundheitswesen Mensch jedoch, irrt durch die Welt und fühlt sich irgendwie nicht richtig. Warum ist das so? Die Antwort ist wahrscheinlich in der Evolution verborgen. Entdecken wir sie – später vielleicht.
Transformation, der zweite Schritt: Verlassen wir die auf das Individuum und seine Defizite fokussierte Sicht. Menschen, das bezeichnet ab jetzt Individuen und Gemeinschaften.
Und dann (neurodivergente Zukunftsmusik erklingt): Nach gelungener Transformation bezieht sich Gesundheitskompetenz vielleicht zukünftig darauf, wie gut Individuen und Communitys in der Lage sind, Informationen über typische und atypische Gesundheitswesen zu verstehen, präventive Maßnahmen zu ergreifen und fundierte gemeinsame Entscheidungen zu treffen, um Lebensqualität für alle neurodiversen Gesundheitswesen zu schaffen und zu erhalten.
Wenn es bei der Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen insgesamt darum geht Prioritäten zu setzen, Ressourcen effizient einzusetzen und die bestmögliche Versorgung für Patienten zu gewährleisten, dann sollte in Wissen, Erkennen und Prävention in sensiblen Entwicklungsphasen investiert werden. Und was haben wir davon? Mehr Wert in jeglichem Sinne.
Von Verhaltensbeschreibungen zu biologischen und kognitiven Potenzialen
Verhaltensbeschreibungen beschreiben das, was in Erscheinung tritt (ist unruhig, wirkt unkonzentriert, folgt nicht der Instruktion…). Jedoch, biologische, kognitive und verhaltensbezogene Einordnungen und nicht zuletzt die Sensibilität des Beobachtenden, erfassen und präzisieren das, was individuell gegeben sein könnte. Denken wir in Möglichkeitsdimensionen. Erfreuen wir uns am Überraschenden. Erweitern wir unsere Ambiguitätstoleranz. Biologische, kognitive und Verhaltensmaße sind Indikatoren für mögliche negative Entwicklungen, die ins Positive gewendet werden können. Überraschend oft kann eine als defizitär gesehene ADHS-Besonderheit in eine nützliche und produktive umgewandelt werden.
ADHS-Versorgungsprobleme
- Problem: Bisher spielten im Themenbereich ADHS die Mediziner die zentrale Rolle und unter diesen zudem die (wenigen) Experten für Diagnostik. Was resultiert daraus? Wartezeiten bis zu 17 Monaten. Macht nichts, impulsives Warten macht geduldig, fördert Gesundheit und Wohlbefinden.
- Problem: Die Behandlung – die wertschätzende, kenntnisreiche, erkenntnisreiche, von konstruktivem Dialog erfüllte mit Aha-Effekt sollte es schon sein.
- Problem: Die Wissens-Versorgung – wo sind die guten Leute denn nur, wo lernten sie nur und was lernten sie in der universitären Lehre seit dem Jahr 1999? Es war das Jahr, in dem in diesem Land die ersten Seiten von Hallowell´s und Ratey´s Zwanghaft zerstreut aufgeschlagen wurden. Das hochkomplexe Thema ADHS kam seitdem vereinzelt in dem einen oder anderen angrenzenden Fachbereich mit 1-2 Doppelstunden vor. Wo sind die gut Ausgebildeten? Wo sind die Experten? Wenn es sie gibt, werden wir sie erkennen, wenn sie uns begegnen?
Versorgung mit Ideen
Was ist wichtig für positive Entwicklungen aus der Sicht der Menschen mit ADHS? Was ist wichtig aus der Sicht von Angehörigen und Interessensvertretern? Nur durch Partizipation wird die Versorgung mit Ideen balancierter, positiver, und inklusiver. Das Wissen über die andere Art der Wahrnehmung und der Besonderheiten von Menschen mit ADHS soll erweitert werden durch Psychoedukation und Gesundheits-Prävention in allen Communities von Familie über Bildung, Arbeit und Freizeit. Atypische Denker werden gebraucht in Institutionen, Think-Tanks, in Out of the box-Boxen, im Innovations-Bereich, in Schulen und in jedem Team.
Forschung und Forschungstransfer
Für die Forschung wurde postuliert: Lokale und nationale Netzwerke sollten zusammenarbeiten, Ideen entwickeln und umsetzen in gemeinsamen Projekten, die sich bald auf größere internationale Zusammenarbeit erweitern werden. Erst der Forschungstransfer in die Realität fördert mehr Gesundheit und Wellbeing für die Gemeinschaft. Wir brauchen die Verschiedenheit des Geistes, so der struwwelige Heinrich Hoffmann im Jahre 1848. So schnell kann das gehen. Zuerst kommt der Aha-Effekt und wenige Jahrhunderte später folgt schon das Bewusstsein. (😊)
Neues Wissen -> neues Denken und Wissenstransfer
Das Atypische ergänzt das Typische und wird zur Team-Bereicherung. Atypische, neurodivergente Menschen mit ADHS, ASD oder von Natur aus gleich mit beidem ausgestattet (AuDHS), zeigen oft ein hohes Maß an Interesse an komplexen, unvoreingenommenen Informationen, unabhängig von vorgegebenem mehr oder weniger sozial erwünschtem Denken. Am Hyperfokussieren werdet wir sie erkennen. Atypische Denker sind oft unabhängig von der sozialen oder nicht-sozialen Natur eines Themas. Sie sehen das Verborgene, das Paradoxe, das Witzige, das weit Entfernte, das Überaschende. Sie brauchen oft keine neurotypische Motivation. Sie sind am Thema selbst interessiert. Sie können Neues denken.
Tun wir es. Bringen wir das Atypische in die Normalverteilung. Himmel, wie wird das aussehen? Rechnen wir mit permeablen Gruppengrenzen, Durchbrüchen, sprudelnden Ideen, mit hohen Wellen, Sprung Innovationen, Beulen und Horizonterweiterungen. (😊) (😊) (😊)
Nicht über uns, ohne uns. Modernisieren wir gemeinsam das Denken, erweitern wir unser Netzwerk, stärken wir die Zusammenarbeit mit Menschen und Communities, entwickeln wir innovative Ideen, die sich bald ausbreiten und erweitern werden und bewirken wir deren Umsetzung in gemeinsamen Projekten. Der Wissenstransfer in die Realität fördert Gesundheit und Wellbeing für die Gemeinschaft.
Neurodiversität bedeutet: Das Atypische ergänzt das Typische und wird zur Bereicherung der Community.