Pfingstrosen aus Phantasie
Fremde wohnten nun auf dem Hof. Die Eheleute Ditsche, Paula und Hermann, waren bei der Vertreibung im Winter erfroren, aber die Pfingstrosen waren nicht erfroren, sie blühten wieder. Sie blühten noch immer. Unkraut wucherte überall. Hier und dort zwischen den Gewächsen, die aussahen, als kämen sie aus fernen Ländern, wuchsen die wunderbaren rosaroten Päonien. Und auch die Kaiserkronen hatten sich einen anderen Platz im Garten gesucht, zum Leben. Niemand hätte an diesen Stellen des Gartens solche prächtigen Blumen gepflanzt, nur der Wind.
Immer war sie als Kind so gerne an diesem verzauberten Garten vorbeigegangen. Immer hatte sie darauf gewartet, wieder den Klang der Musik zu hören. Aber die schöne, starke Frau mit den schnellen braunen Augen, mit den aufgelösten welligen braunen Haaren, die die Zügel in der Hand hielt und das Leben und das Glück – die Frau vom alten Jahnel-Hof – gab es nicht mehr. Das große, aus roten Ziegelsteinen gemauertes Wasserbassin war zu sehen und zu hören war ein leises Plätschern und Rauschen. Die Blätter der großen alten Kastanie spielten mit dem unruhigen Wasser ein Schattenspiel.
Der alte Garten
Kaiserkron und Päonien rot,
Die müssen verzaubert sein,
Denn Vater und Mutter sind lange tot,
Was blühn sie hier so allein?
Der Springbrunnen plaudert noch immerfort
Von der alten schönen Zeit,
Eine Frau sitzt eingeschlafen dort,
Ihre Locken bedecken ihr Kleid.
Sie hat eine Laute in der Hand,
Als ob sie im Schlafe spricht,
Mir ist, als hätt ich sie sonst gekannt –
Still, geh vorbei und weck sie nicht!
Und wenn es dunkelt das Tal entlang,
Streift sie die Saiten sacht,
Da gibt’s einen wunderbaren Klang
Durch den Garten die ganze Nacht.
Joseph von Eichendorff
Ende Mai wurde bekannt gegeben, dass nun Sammellager für die Schlesier eingerichtet würden. Von dort aus werde dann mit der Eisenbahn der Abtransport in die britische Besatzungszone erfolgen. Es gab sogar eine Liste des offiziell zugelassenen Reisegepäcks. Jede Misshandlung von Abreisenden und Abnahme des zugelassenen Reisegepäcks würde bestraft, hieß es in der Bekanntmachung. Aber leider richtete sich niemand danach.
Pfingsten 1946 wurden die ehemaligen Dorfbewohner wieder ausgewiesen. Wieder mussten sie zu Fuß über den Fiebich gehen. Immer wieder schaute sich Anne-Marie suchend um, obwohl sie doch wusste, dass sie ihre Schwester nie mehr sehen würde. Mathilda war ihr ganz nah. Hellblau strahlte der Himmel, hellblau wie die Augen von Mathilda. Dicht gedrängt standen die Menschen wartend auf der Dorfstraße. Es gab keine Pferde, keine Kastenwagen, keine Kutschen, nur traurige Menschen waren zu sehen. Alles, was sie jetzt noch hatten, waren die Kleider, die sie auf dem Körper trugen, die Ängste und die Kinder an den Händen. Milena hatte beim Abschied geweint, sie wollte ihre geliebte kleine Freundin Maria nicht hergeben, Johanna sollte nicht gehen. Alle Kinder wollten doch morgen wieder im wilden Wäldchen „am Stausee“ weiterbauen. Und auch Milenas Vater hatte angeboten, Maria auf dem Hof zu behalten. Aber die Geschwister sollten natürlich zusammenbleiben. Der Weg war wieder so weit und so mühsam, besonders für die Kinder. Wieder gingen sie die zwanzig Kilometer über Ziegenhals nach Neiße. Aufgereiht wie Perlen standen einst die Häuser am Ring, an diesem wundersamen Platz in Bad Ziegenhals, den Annemarie noch immer so liebte. Die vertriebenen Dorfbewohner durften nur Handgepäck mitnehmen, Handgepäck, das mit der Zeit immer spärlicher geworden war. Anne-Marie hatte die kleinen, von ihr genähten Rucksäcke der Kinder mit Kleidung und
Unterwäsche gefüllt.
Anne-Marie und ihre Nichte Johanna waren noch immer geschwächt von Typhus, vom Fieber. Sie gingen den schweren Weg und das wenige, was sie noch hatten, trugen sie auf den Schultern und in den Händen. Sie erreichten über eine provisorische schmale Holzbrücke das zerrissene, zerstörte Bad Ziegenhals. Aber als sie am Ring vorbeikamen, plätscherte wie durch ein Wunder noch immer der kleine alte Marmorbrunnen unter der Linde. Und als der Wind den Duft der tausend Lindenblüten herüberwehte, Johanna und Anne-Marie für einen Moment ihre Augen schlossen, Johanna Anne-Maries Hand ganz fest hielt – saß Mathilda unter der Linde, Mathilda der Phantasie.
Die falsche Schwester
Meine Schwester, die spielt’ an der Linde. –
Stille Zeit, wie so weit, so weit!
Da spielten so schöne Kinder
Mit ihr in der Einsamkeit.
Von ihren Locken verhangen,
Schlief sie und lachte im Traum,
Und die schönen Kinder sangen
Die ganze Nacht unterm Baum.
Die ganze Nacht hat gelogen,
Sie hat mich so falsch gegrüßt,
Die Engel sind fortgeflogen
Und Haus und Garten stehn wüst.
Es zittert die alte Linde
Und klaget der Wind so schwer,
Das macht, das macht die Sünde –
Ich wollt, ich läg im Meer –
Die Sonne ist untergegangen
Und der Mond im tiefen Meer,
Es dunkelt schon über dem Lande;
Gute Nacht, seh dich nimmermehr.
Joseph von Eichendorff
Die Gärten, die Anlagen, die Blumenrabatte – alles war verwüstet – nur die prächtigen Pfingstrosen blühten überall. Ausgebrannte Häuser mit großen, dunklen Fensteraugen standen traurig am Ring.
Die Flügel eines schönen Fensters mit zerschlagenen Fensterscheiben schlugen immer wieder hin und her im Wind. Immer schlugen sie mit den Flügeln und konnten niemals fliegen. Vögel flogen vorbei mit einem traurigen,
langsamen Flügelschlag.