Schlesische Pfefferkuchensoße
„Na, da sind ja die guten Kräuter!“, sagte die Mutter. Da sind sie ja endlich, hörte Anne-Marie, die auch die unausgesprochenen Worte hören konnte, die wusste, dass sie wieder die Zeit vergessen hatte. Das Rindfleisch war schon im Topf, dazu einige Suppenknochen, Porree, Sellerie, Möhren und die guten Kräuter aus dem Garten. Als die Mutter ihr über die kalten Hände streichelte und lächelte, hatte Anne-Marie ihr ungutes Gefühl vergessen. Ein wunderbarer Duft schwebte in der Küche. Es war wieder Weihnachtszeit. Das Leben war beständig und schön. Sie spürte für einen Augenblick die Zeit. Sie versuchte den schönen Moment einzufangen, für immer, denn sie hatte eine leise verschwommene Ahnung: die Zeit anhalten, das ist vielleicht das Glück.
In diesem Jahr wollte Anne-Marie endlich einmal das Rezept der berühmten „Schlesischen Pfefferkuchensoße“ aufschreiben. Einfach so wollte sie alles aufschreiben, nur so aus Spaß, sagte sie – aber vielleicht war es auch das tief^verborgene, sorgenvolle Gefühl, etwas für immer zu verlieren. Sie setzte sich an den großen Esstisch und schrieb zuerst alle Zutaten auf, dann das Rezept und noch so dies und das, was die Mutter ihr sagte, und beide, Mutter und Tochter waren dabei so vergnügt und sie lachten wie – ja, wie die mit Zitronenzuckerglasur verzierten Pfefferkuchenpferdchen, meinte Anne-Marie. Denn in diesem Jahr gab es nicht nur Hänsel und Gretel, Herzen und Rauten aus Pfefferkuchen, sondern auch die von Anne-Marie erfundenen lachenden Pfefferkuchenpferdchen. Oh, sie war schon wieder vom Thema abgekommen, sie hatte es selbst bemerkt und fing nun an ganz konzentriert zu schreiben:
Die Soße bei geringer Hitze langsam, leise kochen lassen. Das war so ein Satz, der von der Mutter manchmal zu hören war. Erst am nächsten Tag wird nach vielen Stunden die Fleischbrühe durch ein großes Sieb in einen anderen Topf gegossen. Nach einem leichten Essen am Mittag des 24. Dezember war es dann an der Zeit, mit den Vorbereitungen für die Rosinensoße zu beginnen. Gut 150 Gramm Butter wurden sehr, sehr langsam zerlassen. Dann wurden drei gut gehäufte Esslöffel Mehl dazu gegeben. Mit dem großen Holzlöffel musste man nun die goldgelbe Masse rühren. Dabei durfte niemals die Aufmerksamkeit abgelenkt werden, denn Butter verbrannte schnell. Langsam verwandelte sich das Goldgelb in Hellbraun. „Jetzt nur nichts anderes tun“, sagte dann die Mutter während des Rührens. Das Hellbraun ward zu Lebkuchenbraun. Ein feiner Geruch war auf einmal wahrzunehmen. In diesem Moment wandelte sich das Lebkuchenbraun zu echtem schlesischen Pfefferkuchenbraun. Der Topf mit der dunklen Soßenbasis wurde sogleich vorsichtig von der Feuerstelle gezogen. Die heiße Fleischbrühe wurde nicht wie sonst mit der Suppenkelle aus dem großen Suppentopf zugegeben, das war zu gefährlich. Zuvor abgemessene Fleischbrühe, gut ein halber Liter, stand schon in einer kleinen Kasserolle bereit. Dann wurde mit etwas Abstand vom Topf und mit großer Vorsicht unter ständigem Rühren die extrem heiße Soßenbasis gelöscht. In die jetzt schon sehr schön gebundene Soße wurde nun der Zuckerrübensirup eingerührt. Man nahm vorzugsweise 500 g selbst gekochten Sirup oder einen Becher Goldsaft vom Händler. Das jüngste Kind im Haushalt musste nun die Blechdose mit dem restlichen Pfefferkuchen vom letzten Jahr holen. „Pfefferkuchen vom letzten Jahr?“, fragte dann wahrscheinlich das Kind mit großen Augen. „Weil die guten Zutaten, der Sirup und die Gewürze den Pfefferkuchen so gut konservieren“, erklärte dann die Mutter, „weil sie so beständig sind!“ Die Soße musste nun bei geringer Hitze sehr langsam, sehr lange kochen. Ab und zu musste man umrühren und wieder Fleischbrühe nachgießen, insgesamt nochmals gut einen halben Liter.
Eine halbe Stunde vor dem Servieren wurden die ungeschwefelten, gewaschenen, gelesenen Rosinen und drei bis vier Esslöffel guter, selbst gemachter Johannisbeergelee zugegeben. Inzwischen hatte schon ein ganz besonderer Geruch das ganze Haus erfüllt. Anne-Marie nannte den Geruch „Denn es soll wieder Weihnachten werden“.
Die feinen schlesischen Weißwürstchen machte der Metzger aus Kalbfleisch und edlen Gewürzen nach einem alten geheimen Rezept. Die feinen weißen Würstchen müssen im heißen, fast kochenden Wasser ungefähr zwanzig Minuten ziehen. Sie dürfen nicht kochen. Zur Pfefferkuchensoße gibt es helles Mischbrot, scharf gebacken, mit dunkler Kruste, notierte Anne-Marie, denn zusammen mit hellem Weizenbrot kommt der feine Geschmack der Rosinensoße am besten zur Geltung.