Vergoldetes Land
Eldorado
Es ist von Klang und Düften
Ein wunderbarer Ort,
Umrankt von stillen Klüften,
Wir alle spielten dort.
Joseph von Eichendorff
„Die schmecken, die schmecken“, sagte Anne-Marie, mit einer Betonung, die so schnell und sanft anstieg wie die grünen Hügel der Landschaft ihrer Heimat. Ihre große Schwester konnte nichts erwidern, sie war zu sehr beschäftigt. Nur etwas wie das Schmatzen eines Kusses war zu hören. Genüsslich saugte Anne-Marie den Saft der Sonnenseite. Ein leichter, warmer Wind war zu spüren. Der Wind zerzauste ein wenig die dichten, dunkelgrünen Blätter und die Sonne schien ihr noch einmal, so als ob es das letzte Mal sein könnte, ins Gesicht. Anne-Marie schloss die Augen und sah das Spiel der strahlenden roten und gelben Farben und spürte den Sommer, der mit letzter Kraft wieder dieses Wunder vollbracht hatte – diesen Genuss. Der warme Saft, der so nach Sommer schmeckte, lief ihr über die Lippen, über das Kinn und weiter über ihren goldbraun gebrannten Hals in den Ausschnitt ihres fast schon zu klein gewordenen Sommerkleides, um sich dann irgendwo in der Nähe ihres Herzens in ihre Haut einzubrennen, für immer.
„Nein, du musst erst die gelbe Schattenseite essen und dann die rote Sonnenseite“, sagte Mathilda und wippte wild mit den Füßen, so sehr, dass der dicke Ast, auf dem die beiden Mädchen saßen, bedenklich knackte. Anne-Marie zuckte leicht zusammen. Aber schon im nächsten Moment war der Schreck vergessen. Sie fegte sich mit einer geübten Handbewegung einen ihrer dicken goldblonden Zöpfe aus dem Gesicht und lachte nur.
Sie hatte einfach keine Lust irgendetwas zu sagen. Nur ein Wort – und die Sonne würde hinter einer Wolke verschwinden, der Ast, auf dem sie saßen, würde vielleicht abbrechen, die Mutter würde rufen… Die Zeit sollte stehen bleiben. Alles sollte noch genau so bleiben, wie es jetzt gerade war. „Mit dieser Seite musst du anfangen.“, sagte die große Schwester. Mathilda weiß wieder alles, dachte Anne-Marie. Na ja, sie ist ja auch doppelt so alt wie ich. Anne-Marie saugte sich nochmals genüsslich an ihrem Gravensteiner fest und schaute, ohne dass ihre Schwester es bemerkte, ganz heimlich auf die fünf Finger ihrer rechten Hand, dann wagte sie es, für einen Moment freihändig auf dem dicken Ast des Apfelbaumes zu sitzen, um schnell die gespreizten Finger ihrer beiden Hände anzusehen. „Morgen habe ich Geburtstag, dann bin aber sechs Jahre alt, ha!“, sagte Anne-Marie, die doch ganz still sein wollte, um einen Moment die Zeit anzuhalten. „Erzähle es doch bitte noch einmal, nur noch einmal, Mathilda, bitte, das mit meinem Geburtstag und das mit dem Apfel!“, drängte Anne-Marie. „Anne-Marie, du redest und redest den ganzen Tag, und wenn du wirklich einmal still bist, dann musst du ständig Geschichten hören. Und oft denke ich, du hörst gar nicht mal richtig zu“, seufzte Mathilda.
Anne-Marie schloss die Augen und hörte die Geschichte, die sie so sehr liebte, die Geschichte, die sie sehen konnte. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass es ein Geheimnis gab, das erst viele Jahre später entdeckt werden würde. Die tägliche Arbeit nahm alle Sinne in Anspruch. Auf dem großen Hof waren immer hundert Sachen zu machen, hundert Dinge zu regeln, tausend Aufgaben zu erledigen, tausend Gedanken zu bedenken… Niemand ahnte, dass Anne-Marie ein ganz besonderes Kind war.
Schon nach den ersten Worten der Schwester flogen Anne-Maries Gedanken davon. In ihrer Phantasiewelt konnte sie sich manchmal in andere Menschen hineinversetzen.
Sie spürte manchmal sogar die Gedanken der Menschen, die ihrem Herzen sehr nah waren. In ihrer Phantasiewelt konnte sie sich sogar in andere Zeiten hineinversetzen. Es war ihr Geheimnis. In diesem Moment sah sie ihre Schwester. In ihrer Phantasiezeit war Mathilda sechs Jahre alt:
„Sie kommen, sie kommen!“, rief das wilde kleine Mädchen – Mathilda der Phantasie. Sie rannte den Ankommenden entgegen. Das Traben der beiden Pferde war zu hören. Der Rhythmus der Hufe klang so eindringlich auf dem Kopfsteinpflaster der Dorfstraße, als wäre es ein Zeichen, dass etwas ganz Besonderes nahte. Ohne lange zu überlegen, machte der Bauer Albert Dinter dass, was er sonst nie tat. Er ließ die große Schaufel in der Wanne mit dem frisch angerührten Zement stehen und wusch sich eilig die Hände. Mathilda stürmte los, sprang schnell über die drei gestapelten Holzbretter, die plötzlich vor ihr auf der Wiese lagen, schlug einen Haken, beugte sich ein wenig nach vorne, rupfte eilig ein paar Kamilleblüten von der Wiese, sprang hoch und rannte weiter. Wie ein Hase, dachte gewiss der Vater, als er kopfschüttelnd seiner Tochter nachschaute.
Aber wahrscheinlich dachte er gar nichts in diesem Moment der Freude über diesen Anblick, denn gerade eben hielt die Pferdekutsche an. Der Großvater, der ganz in der Nähe des Bahnhofes von Giersdorf wohnte, hatte die Ankommenden aus der Kreisstadt Oppeln mit der Kutsche am Bahnhof abgeholt. Er sprang vom Kutschbock, schwungvoll, fast wie ein junger Mann, um schnell beim Aussteigen behilflich zu sein. Dann eilte er wieder zu den Pferden, die unruhig wurden, die die Aufregung, die das Besondere spürten. Mit seiner sanften Stimme und mit dem sanften Streicheln seiner kräftigen Hände, die fast so wirkten, als ob sie für solche Berührungen gar nicht mehr geeignet wären, beruhigte er den Schimmel und den Rappen. Er blieb bei den Pferden stehen, um den Zauber des Augenblicks der ersten Begegnung nicht zu stören. Mathilda war, nachdem sie ihre Mutter in ihrer stürmischen, heute etwas gemäßigten Art umarmt hatte, schnell auf die Kutsche geklettert, um besser sehen zu können. Dann hatte sie die Kamillen-Blumen, die sie doch gerade noch ihrer Mutter feierlich überreichen wollte, einfach vor Freude in die Luft geworfen. Ein winziges Blütenblättchen landete sanft auf dem kleinen Gesichtchen, das zwischen den weißen Tüchern aus Leinen und Wolle rosig leuchtete. „Ist das klein!“, staunte die große Schwester. Für einen Moment hielt sie wirklich den Atem an, … schaute, staunte. Sie zuckte zusammen, sprang von der Kutsche und rannte über die Wiese davon, Richtung Scheune. Auf den Hügeln hinter der Scheune lag der Obstgarten. „Alfons, Jakob, schnell, sie sind da, sie sind da!“, klang es noch durch den Garten. Albert, der Bauer war zwar, so schnell sein linkes Bein es zuließ, zur Einfahrt seines Hofes gelaufen, doch auf halbem Wege war er noch einmal stehen geblieben, um den schönen Anblick noch einen Moment zu genießen: Seine Frau Anna und in ihren Armen ihr Kind – sie strahlte in der Septembersonne. Ein Baby ist so ein Glück. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er das Leid, das sie in den letzten Jahren erfahren hatten, noch einmal in schnellen grauen Bildern an sich vorüberziehen. Er sah die Hebammen, die immer alles alleine machen wollten, die alles besser wussten, die keinen Arzt brauchten, die schließlich auch nicht ihr Honorar verringern wollten. Und er spürte noch einmal den Schmerz, als es dann zu spät war, als dann der kleine Junge in der Geburt erstickt war. Er schüttelte kurz seinen Kopf, um den Gedanken an die beiden tot geborenen winzigen Zwillings-Mädchen abzuschütteln und um nicht mehr den Schrei seiner Frau zu hören, der sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte. Ein Baby ist so ein Glück. Heimlich wischte er eine Träne aus seinen türkisblauen Augen, die gleich schon wieder so hell strahlten wie der Himmel an diesem blauen Spätsommertag.
Der zwölfjährige Jakob, der zwischen den dunkelgrünen Blättern des Apfelbaumes hervorschaute, wirkte ganz ruhig und gelassen, denn er hatte schon Mathilda, seine sechsjährige Schwester, und Alfons, seinen dreijährigen Bruder. Jakob bewegte sich langsam. Seine rechte Körperseite wirkte unkoordiniert. Wieder spürte der Vater dieses Gefühl, das er nur schwer beherrschen konnte, diesen Groll, wenn er an die Hebammen dachte. Jakob war ihr erstes Kind gewesen. Damals war seine junge Frau so voller Freude gewesen und dann so voller Verzweiflung, über die unglückliche erste Geburt im Jahre 1913, in diesem letzten Jahr vor dem Krieg.
In der Ferne, auf den grünen Hügeln des Obstgartens, waren die beiden Söhne zu hören. Der dreijährige Alfons hüpfte neugierig herbei und wischte sich seine schmutzigen Garten-Hände an seiner Hose ab. Und für einen kurzen Moment war der dreijährige Paul zu sehen. Er hüpfte neugierig herbei und wischte sich seine schmutzigen Garten-Hände an seiner Hose ab. Der Bauer Albert blinzelte mit seinen Augen und schüttelte wieder seinen Kopf. Nein, es gab keinen Paul. Alfons Zwillingsbruder Paul war im Alter von neun Monaten an Masern gestorben. Kleiner Paul, wo kommst du denn plötzlich her? Paul, vielleicht nur ein Lichtspiel der Tränen? Vielleicht…? Ein Baby ist so ein Glück.
Vielleicht…? Fieber? Er wischte sich mit einem Handtuch die Stirn und die eben noch schnell im Wassereimer gewaschenen Hände. Vielleicht war es die heiße Septembersonne? Vielleicht war es die nicht enden wollende fieberhafte Arbeit an seinem großen neuen Wohnhaus. Dieses fieberhafte Arbeiten hatte ihn wieder gepackt. Er musste schnell sein. Das Wetter war in den letzten Wochen gut gewesen, gut zum Bauen. Die Ernte war mehr als gut, sie war schon jetzt ausgezeichnet. Nur die Kartoffeln und die Rüben waren noch draußen auf den Feldern. Auch sein Einkommen war dieses Jahr ausgezeichnet. Es war so ein Jahr, in dem die meisten der vielen Ideen, die in seinem Kopf immer so blitzartig auftauchten, auch realisiert worden waren. Das Jahr 1925 hatte ihnen bisher nur Glück gebracht. Das Dach war gedeckt. Der Innenausbau konnte in diesem Schaffensrausch, der ihn manchmal so erfasste, wohl keine Probleme bereiten. Das erste Zimmer, das Zimmer für Mutter und Kind war gestern Abend fertig geworden. Er hatte gearbeitet, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Morgens, wenn die beiden Handwerksgesellen kamen, hatte er schon angefangen, abends, wenn sie nach Hause gingen, arbeitete er noch immer.
Und jetzt war seine Frau wieder da – Anna mit dem Kind. Wie schön sie war. Fast hätte er vergessen, wie schön sie doch war.
Mathilda, die jetzt gerade den kleinen Hügel zum Obstgarten heraufstürmte, sah sich um. Und genau in diesem Moment sah sie, wie ihr Vater seine Frau so liebevoll umarmte und küsste, so liebevoll. Und schnell schlug sie ihre beiden Hände vor ihr Gesicht, gerade so, als ob sie etwas gesehen hätte, was sie nicht sehen durfte. Eilig, fast wäre sie auf dem feuchten Gras ausgerutscht, rannte sie weiter den Hügel herauf. „Jakob, Jakob! Sie sind da! Wo bist du denn?“, rief sie. Der kleine Alfons war inzwischen bei seinen Eltern angekommen. Jakob saß noch immer im Apfelbaum. Die Leiter lag im Gras. „Mathilda!“, sagte er nur. Jakob sah traurig aus. Mit viel Mühe war er auf den Baum geklettert. Alle Bewegungen, die für andere so leicht waren, waren für ihn so unendlich schwer. Sein kleiner Bruder Alfons war flink wie ein Eichhörnchen vom Baum geklettert. Aber als Jakobs Fuß nach der Leiter tastete, war diese sogleich umgefallen. Mathilda schnappte sich die Leiter, die unter dem Baum mit den Gravensteiner Äpfeln lag, und stellte sie mit großem, kräftigem Schwung an den Stamm. Dann sank sie, wie vom Schlag getroffen, zu Boden. „Mathilda!“, schrie Jakob entsetzt. Schon öffnete Mathilda ihre Augen, rieb sich die schmerzende Stirn und lächelte ein wenig. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, hat Vater doch gestern gesagt.“, meinte Mathilda und schaute nach rechts und nach links. Mehrere leuchtend rote und gelbe Äpfel lagen auf der Wiese unter dem Baum. Jakob kletterte langsam die Leiter herunter. Die Kinder gingen nebeneinander mit langsamen Schritten, so wie es Jakob gefiel, über den Hof, um endlich die Mutter und das kleine Schwesterchen zu begrüßen. „Wie heißt es denn?“, fragte Jakob. „Anne-Marie“, sagte die Mutter Anna lachend. Der Vater schaute seine Frau überrascht und ein wenig erschrocken an. Bei all der Arbeit hatte er doch tatsächlich vergessen, sich für die Namensgebung seines Kindes zu interessieren. „Die Ordensschwestern haben sie schon in der Klinik getauft. Es war eine Nottaufe. Sie war so klein und zart. Alle haben für sie gebetet. Der Arzt hatte ein Lied im Sinn. Er summte nur die Melodie. Sie war schön. Ich glaube, es war sogar ein Soldatenlied und es handelte von einem Mädchen mit dem Namen Anne-Marie. Und jetzt heißt sie eben Anne-Marie“, erzählte die meistens so schweigsame Bäuerin. „Anne-Marie, ja!“, freute sich die Schwester und sie tanzte schon wieder wild auf der Wiese, hielt aber plötzlich inne, berührte ihre schmerzende Stirn und blieb stehen.
Die fast sechsjährige Anne-Marie auf dem Apfelbaum hatte wieder gar nicht richtig zugehört, denn sie hatte die Bilder der Erinnerung schon lange in ihren Träumen, die sie immer und überall träumen konnte, in ihrem Reich der Phantasie. Schon so lange sie denken konnte, gab es diese Geschichten und diese springenden Bilder in ihrem Kopf.
Schwalben flogen vorbei. Warum bleiben sie nicht noch ein wenig länger bei uns, es ist doch noch so warm, dachte Anne-Marie und schaute ihnen nach, bis sie am blauen Himmel verschwunden waren. Dann wanderte ihr Blick zum Giebel des Wohnhauses. Ganz oben unter dem Dach stand ihr Geburtsjahr, eingemeißelt in eine weiße Marmorplatte: 1925