Von den Gedanken
und von der Jagd
„Lauter laute Jäger, ha“, flüsterte Anne-Marie leise, „die werden nicht einen einzigen Hasen erwischen!“ Denn inzwischen war ihr Hund Bosco den Hügel hinauf gestürmt. Neben Anne-Marie blieb er stehen. Noch bevor ihr Hund anfing zu bellen, hatte sie ihn schon mit einem liebevollen Streicheln, das sie oft bei ihrem Vater beobachtet hatte, beruhigt. „Ach Boskop, guter Boskop, die meisten Menschen wissen eben nichts von der Jagd“, sprach sie leise und umarmte ihn. Und dann streichelte sie ausgiebig das glatte braune Fell des Jagdhundes.
Bosco drehte sich zustimmend nickend um und wandte sich dem Hof zu. Von hier aus konnte sie fast den gesamten Hof überblicken. Anne-Marie wusste aber, dass sie selbst von den Küchenfenstern des Hauses aus nicht gleich gesehen werden konnte. Sie zauberte sich einfach unsichtbar, wenn alle wieder etwas von ihr wollten oder wenn es wieder Ärger gab, weil sie vergessen hatte, eine Aufgabe zu erledigen, Kräuter aus dem Garten zu holen oder Holz für den Herd in der Küche. Warum musste man eigentlich immer etwas erledigen, warum konnte man nicht einfach auf der Wiese sitzen und malen und Geschichten erfinden und ein wenig hin und her fliegen und die Landschaft und die Welt von oben betrachten? – Wie die Schwalben: Die Dorfstraße, die sich an den Flusslauf anschmiegte, sich durch das enge Tal schlängelte und die Brücken, die über den Dorfbach führten, die Kirche, die in der Mitte des Dorfes ihren Turm in den Himmel reckte, die Schule auf dem Hügel, neben dem Gutshaus aus der Ritterzeit, den kleinen Platz vor der Kirche, den Bäcker, den Kaufmannsladen und den Fleischer, den Schneider und den Schuhmacher, den Schmied, den Schreiner, den Sattler, den Elektriker, den Stellmacher für die Wagenräder. All das sieht man einmal im Oberdorf und einmal im Niederdorf. Hier und da verteilt, könnte man die drei großen Gasthäuser sehen. Den Marmorbruch sieht man dann am Rande des Dorfes. Wenn man wie die Schwalben über das Dorf fliegt, dann sieht man die Höfe, die entlang der Hauptstraße gebaut sind, die Gärten und die sich anschließenden Felder, die so sanft die hügelige Landschaft zeichnen. Etwas außerhalb des Dorfes, dort am Wald, wo der Großvater wohnte, liegt der Bahnhof. Die Schienen zogen sich von einem Tal zum nächsten.
Oh, waren da nicht gerade die Stimmen ihrer Eltern zu hören gewesen? Anne-Marie und Bosco lagen schnell wieder gut versteckt auf der Wiese hinter den Büschen. Anne-Marie breitete ihre Arme aus, um mit ihren beiden Händen die Gräser zu spüren, die den Geruch von Spätsommer, von trockenem Gras und trockener Gartenerde verströmten.
Ein frischer, kühler Lufthauch wehte durch das Tal. Und die Gedanken malen einen Berg. Wenn man so dicht an der Erde liegt, dann riecht es so wunderbar, dass man immer wieder die Luft tief einatmen muss, genau so, dass während des Atmens die Gedanken einen Berg malen und noch einen und noch einen und noch einen Berg der Sudeten. Kein Berg gleicht dem anderen, so wie kein Atemzug dem anderen gleicht und keine Sekunde der anderen.
Gerade in diesem Moment riecht man es wieder ganz genau: Der Wind weht von den Bergen. Die Berge, die man von dieser Stelle des schmalen Tales nicht sehen kann, sind jetzt ganz nah. Sie hielt den Atem an, um noch einen Moment hoch oben auf dem gemalten Bergen zu sein. Dabei spürten ihre Finger etwas Zartes, Glattes, das vielleicht fast so groß war wie ein Taler. Im nächsten Augenblick hielt sie einen kleinen schwarzen Stein in der Hand. Den alten Marmorbruch und die Sandgrube am Wald mit dem weißen Sand und dem weißen Kies hätte sie auf ihrer Phantasiereise mit den Schwalben fast vergessen. Diese markanten Stellen waren im Vorbeifliegen gewiss nicht zu übersehen.
Ein leichter, warmer Wind wehte über den Hügel. Die weißen Wolken, die heute wieder genau so aussahen wie die gemalten Wolken in der Kirche, zogen eilig vorbei, als hätten sie keine Zeit zu verschenken. Die sich auftürmenden Wolken zogen kontinuierlich in eine Richtung und verbreiteten plötzlich eine Stimmung, die mit großer Kraft die Welt in eine bestimmte Richtung trieb. Nur die Vögel zeigten sich davon unbeeindruckt und betrachteten die silbern glänzenden kleinen Flüsse, die mit Schiefer gedeckten, schwarz schimmernden Dächer der stolzen Bauernhäuser, die traurig grünen Wiesen, die dunkelgrünen Rübenäcker, die schon abgeernteten Felder, die jetzt ruhten, um neue Kraft zu sammeln, die Felder mit dem zaghaft aus der Erde hervorschauenden ersten Wintergetreide und die nach Ernte aussehenden endlosen Kartoffeläcker. Die Kartoffeln!
Anne – Marie schloss die Augen: Wie die Schwalben nach Süden fliegen über die Berge, ganz weit, bis ans Meer. Manchmal malte sie das Meer – die Stille und das Meer.
Die Stille
Es weiß und rät es doch keiner
Wie mir so wohl ist, so wohl!
Ach wüßt es nur Einer, nur Einer,
Kein Mensch es sonst wissen soll.
So still ists nicht draußen im Schnee,
So stumm und verschwiegen sind
Die Sterne nicht in der Höhe,
Als meine Gedanken sind.
Ich wünscht, es wäre schon Morgen,
Da fliegen zwei Lerchen auf,
Die überfliegen einander,
Mein Herze folgt ihrem Lauf.
Ich wünscht, ich wäre ein Vöglein
Und zöge über das Meer,
Wohl über das Meer und weiter,
Bis das ich am Himmel wär!
Joseph von Eichendorff
Bosco stupste sie leicht an, als ob er ihr etwas sagen wollte. Sie richtete sich auf und sah gerade noch, wie eine Schwalbe noch einmal das Nest aufsuchte, als ob sie ganz sicher sein wollte, nicht vielleicht ein Schwalbenkind vergessen zu haben. Oder vielleicht um Abschied zu nehmen von zu Hause. Sie lassen alles stehen und liegen, sie nehmen nichts mit, sie fliehen vor der Zeit, die kommen wird. Mit einem traurigen, langsamen Flügelschlag, flog die letzte Schwalbe davon, fast so als wäre es für immer…
…das Essen schmeckte wieder ganz vorzüglich, meinten die Besucher – diese feinen Braten und das frisch geerntete Gemüse, dazu gute dunkle Soße. Im Herbst gab es Wildbraten, Reh gespickt mit Speck – für alle satt – mit frischem Apfelkompott mit gerösteten Mandeln, Rotkohl mit Apfelstückchen und feinen Kräutern und Gewürzen und natürlich Preiselbeeren. Es war immer eine Zeit der großen Festessen für die Familie und für die ganze Verwandtschaft. Anne-Marie freute sich immer, wenn Besuch zum Essen kam, dann hörte sie immer viele interessante Dinge, die sie aufmerksam verfolgte, auch wenn sie manchmal nicht ganz verstand, wovon sie jetzt wieder sprachen. Oder waren ihre Gedanken vielleicht wieder, bedingt durch ein einziges Wort, ein Bild oder was auch immer, in eine andere Richtung gewandert? Du hörst aber auch nie zu, sagten alle immer wieder. Aber das stimmt doch gar nicht, dachte sie dann gekränkt und sagte nichts. Oft fühlte sie, wenn Worte sie trafen, wie ihre Gedanken versteinerten und sie nichts antworten konnte. Mit ihren versteinerten Gedanken stürzte sie in die Tiefe, nichts und niemand erreichte sie mehr. Bis sie irgendwann, weil sie so vergesslich war, die Ursache für ihr Gefühl vergessen hatte und ein neues Gefühl ihre Gedanken ganz und gar beherrschte.
In diesem Moment betrachtete sie gedankenverloren die kleine weiße Blütenschale aus dem dünnen, feinen Porzellan mit dem durchbrochenen Rand, der fast wie aus Spitze wirkte. In der Porzellanschale befand sich eine Enzianblüte, die ihr Vater aus dem Bergwald mitgebracht hatte. Enzian, eine seltene Kostbarkeit der Natur, die man nicht pflücken durfte, die aber schon abgerissen war und die der Vater ihr geschenkt hatte. Blau, so wunderschönes Blau, nur eine einzige Blumenart auf der Welt leuchtet so blau. Dieses Blau faszinierte sie. Die blaue Blüte in der weißen Blütenschale war wunderschön. Die Welt war wunderbar. Manchmal war alles so wunderschön. Die Zeit sollte stehen bleiben, alles sollte so bleiben wie in diesem Augenblick. Die Blaubeeren wachsen auch dort, wo die blaue Blume wächst, aber das Blaubeerblau ist längst nicht so schön, dachte Anne-Marie, die gerade ihr Dessert genüsslich verspeist hatte, eine mit Sahne durchzogene Blaubeergelantinenspeise.
„Wie kommt die Anne-Marie denn eigentlich in der Schule zurecht?“, fragte während der lauten Unterhaltung bei Tisch plötzlich die Tante. Schon sprang Anne-Marie auf und rannte weinend davon. Sie hasste solche Fragen. Sie hasste es, wenn jemand über sie sprach, als spräche man über den neuen Jagdhund, den der Vater erzog. Was er schon alles kann, was er schon alles gelernt hatte, wie klug und brav er doch war. Sie hasste es, wenn andere Menschen solche Fragen stellten. Mit ihrer Reaktion hatte sie wieder für Ärger und Aufruhr gesorgt, sie wusste es sofort. Aber sie wollte nichts hören und sie hörte auch nicht in diesem Moment. Das war einfach nicht auszuhalten, wie sie behandelt wurde.
Bosco stand plötzlich in der Tür zum Esszimmer, der doch auf dem Hof bleiben sollte, hier gar nichts zu suchen hatte. „Boskop, komm!“ sagte Anne-Marie schnell, fasste ihn am Halsband und führte ihn hinaus. „Boskop, Boskop nennt sie den guten Bosco!“, lachte die Tante. „Boskop nennt sie den Bosco. Boskop, der gute Backapfel. Das gibt’s doch gar nicht.“ Sie lachte und lachte und konnte sich gar nicht beruhigen. Hoffentlich kam diese Tante aus Hamburg nicht so bald noch einmal zu Besuch. Es gibt Verwandte, die sind einfach unerträglich. Und wie sie lacht, einfach schrecklich. Es gibt Leute, die merken gar nichts, dachte Anne-Marie und rannte mit Bosco davon.
Boskop, so hatte sie den Hund immer genannt. Als der kleine Jagdhund in die Familie kam, war er so süß und seine Schnauze sah ein wenig aus wie ein… Die schreckliche Tante aus der Stadt, die merkt aber auch gar nichts. Anne-Marie ärgerte sich und versteckte sich mit ihrem Hund im Garten. Vielleicht hat die Tante ein Herz aus Eis oder aus Holz oder aus Stein. Anne-Marie sammelte schon lange steinerne Herzen, vielleicht sollte sie jetzt keine mehr sammeln, überlegte sie, aber die waren einfach zu schön. Im Garten hinter der Werkstatt lagen die besonderen Steine, die alle die Form von Herzen hatten. Die schönsten Steine waren im Dorfbach zu finden. Im Sommer, als sie mit den anderen Kindern vom Hof gegenüber am Bach gespielt hatte, hatte sie einen großen weißen Herzstein gefunden. Die Kinder stauten das Wasser, bis es nach stundenlanger Arbeit endlich als Freibad zu bezeichnen war. Aber leider zerstörte die Strömung das Bauwerk aus Lehm und Stein irgendwann in der Nacht. Nach ein paar Tagen spielten die Kinder wieder das gleiche Spiel.
Die weißen Kieselsteine kamen aus den Bergen. Mit dem Schmelzwasser stürzten sie in die Täler und immer weiter und weiter durch die Flüsse und Ströme bis in Meer. Die Wellen des Meeres treiben die Steine über den Meeresgrund, immer und immer wieder, tausend Mal tausend Jahre vielleicht, bis sie so klein wie Sandkörner geworden sind. Dann kommt die Flut. Wellen treiben den Sand an den Strand. Sonne und Wind trocknen den Sand. Sturmwind weht die Sandkörnchen wieder weit über das Land bis nach Hause – in die Berge vielleicht.