Zwielicht
Zwielicht
Dämmerung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume –
Was soll dieses Graun bedeuten?
Hast ein Reh du lieb vor andern,
lass es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.
Hast du einen Freund hienieden,
trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt es Krieg im tückischen Frieden.
Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich – bleib wach und munter.
Joseph von Eichendorff
Das erste Stück des Waldes gehörte zum Nachbarhof. Gleich hinter dem weißen Stein am Wegrand begann ihr Wald. Wie gehetzt begann Anne-Marie die trockenen Äste und Zweige einzusammeln. Sie bahnte sich ihren Weg durch das trockene Unterholz, das mit unsichtbaren hölzernen Fingern an ihren Beinen kratzte, das sich quer legte, um sie aufzuhalten, das sogar Fangschlingen bildete, um sie zu Boden zu ziehen, das knackte und flüsterte, um sie zu ärgern. Sie blieb in der Nähe ihres Vaters. Mit festen Schritten, energischer Anstrengung und mit der so lebendigen Vorstellungskraft ihrer Gedanken kämpfte sie gegen das Grauen. Laut krachte das tote Holz unter ihren Füßen. Zwielicht kämpfte gegen das Dunkel. Die Arbeit war getan. Noch vor dem Regen kamen sie nach Hause. Noch regnete es nicht.
Noch immer regnet es nicht, dachte sie am Abend, als der Wind um das Haus jagte und sie nicht einschlafen konnte, wie so oft.
Etwas wie das Rauschen und Flüstern der Blätter war wieder zu hören. Sie sah wieder die braunen schnellen Augen, sie hörte den Schrei und öffnete ihre Augen. Aber es war Nacht. Es regnete. Unaufhaltsam strömte der Regen in der Regenrinne, rauschte und flüsterte. Anne-Marie konnte nicht mehr einschlafen, aus Angst, den Traum immer wieder zu träumen und wieder den Schrei zu hören, den sonst keiner hörte. Als sie am nächsten Morgen in die Schule ging, waren die grauen Regenwolken verschwunden. Die Astern im Blumengarten vor dem Haus leuchteten so frisch nach dem Regen und nickten mit ihren nassen Köpfen. Schnell pflückte Anne-Marie einen Strauß mit Astern, Dahlien und Herbstblumen in Rosa, Rot und Orange. Ihre Freundin hatte Geburtstag. Sie wurde schon elf Jahre alt. Anne-Marie ärgerte sich ein wenig, nächste Woche hatte sie erst ihren zehnten Geburtstag. Luzie war eigentlich gar nicht ihre Freundin, jedenfalls nicht immer, überlegte sie. Immer wieder vermittelte sie ihr das Gefühl, ganz anders zu sein als die anderen Kinder. Ja, manchmal war Luzie schon ganz nett und ganz lustig. Erst gestern hatte sie wieder versucht Ärger zu produzieren. Luzie bekam die Blumen, sie hatte Geburtstag, der Grund des Ärgers von gestern wollte ihr nicht mehr in den Sinn kommen. Vergessen, verflogen – es war gut so. Aber heute war wohl schon wieder so ein Tag, an dem Luzie versuchte, andere gegeneinander aufzuhetzen. Sie sagte den Mädchen ihrer Klasse: „Seht mal, die Lene hat schon wieder ein neues Kleid an. Sie will sich nur wichtig machen. Die ist so böse und gemein. Die denkt wohl, sie sei etwas Besseres als wir. Keiner redet mehr mit der Lene. Keiner hört ihr zu!“ Dann ging ein Flüstern durch die Bänke: „Wir sind böse auf die Lene.“ Keiner fragte warum. Lene hat doch nichts getan. Jeder machte mit. „Warum machen sie einfach mit?“, fragte sich Anne-Marie und konnte es einfach nicht verstehen. Lene weinte. Fast hätte auch sie angefangen zu weinen, wenn sie nicht plötzlich dieses Ungerechtigkeitsgefühl erfasst hätte. Nein, sie machte nicht mit. Sie wollte gleich mit Lene gehen, wenn die Handarbeitsstunde vorbei war. Heute war wieder dieser lange Schultag, an dem alle anderen Klassen schon früher Schulschluss hatten. Den ganzen Vormittag sollte man zuhören, still sitzen, aufpassen und mittags mussten die Mädchen auch noch zwei Stunden häkeln. Häkeln mit Hetzen würde es heute wieder sein, überlegte sie, dieses leise , böse Hetzen, es vervielfältigte sich, bekam eine Eigendynamik, bald wusste wieder keiner, wie die Hetzjagd eigentlich angefangen hatte und warum. Keiner kann alleine so bösartig sein. Wenn keiner mitmacht, wenn sich alle ihre eigenen Gedanken bewahren, ihre eigenen Fragen stellen, immer nach dem Warum fragen würden, dann könnte man vielleicht das Böse wie einen eingesperrten giftigen Flaschengeist unter Kontrolle halten. Denn es ist da, es ist in der Welt. Das Böse darf sich nur nicht ausbreiten, es darf sich nicht anfachen lassen, darf nicht immer mehr Nahrung bekommen